Wer zu früh kommt - Von Konrad Paul Liessmann (Spectrum) 06.07.2002

 

Seine Texte waren scharfe, rücksichtslose, manchmal ungehobelte Eingriffe in das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Seine Kritik der technologischen Zivilisation traf den Nerv einer Entwicklung, die gegenwärtig einem neuen Höhepunkt zusteuert. Von der Weltfremdheit des Menschen: Günther Anders zum 100. Geburtstag.

 

Hundert Jahre nach seiner Geburt, zehn Jahre nach seinem Tod ist es still geworden um Günther Anders. Der scharfsinnige Philosoph, streitbare Publizist und unbeugsame Moralist scheint seine Zeit gehabt zu haben und nur noch bei jenen Interesse zu erregen, die sich an einer Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert oder an den Frühformen der Technik- und Medienphilosophie abarbeiten.

Historisierung und Akademisierung wäre allerdings das letzte gewesen, was sich Anders für sein Werk erwartet hätte. Und dies aus guten Gründen. Als ich Günther Anders im Sommer des Jahres 1982 anlässlich seines bevorstehenden 80. Geburtstages zum ersten Mal besuchte, beschloss er unser langes Gespräch mit einem Seufzer: "Wer zu früh kommt, kommt auch nicht zur rechten Zeit." Dass er zeit seines Lebens ein Unzeitgemäßer gewesen war, war im wohl stets bewusst gewesen. Und wer ihn kannte, wusste, dass er darunter auch litt. Allerdings: er empfand sich als unzeitgemäß, weil er sich seiner Zeit voraus wähnte. Der prognostischen Kraft seiner Analysen und Deutungen der technischen Lebenswelt des modernen Menschen traute er zu, Phänomene und Tendenzen, Gefahren und Abgründe erfasst zu haben, die den Zeitgenossen verborgen waren und vielleicht noch lange verborgen blieben. Traute man dieser Selbsteinschätzung, müsste man sagen: Allmählich wird es Zeit, dass die Zeit von Günther Anders kommt.

Günther Anders war, auf eigentümliche Weise, an diesen verzögerten Rezeptionsformen nicht unschuldig. Die Unerbittlichkeit seines Denkens, die mit einer in ihrer Direktheit unvergleichlichen Sprache einhergeht, bedurfte letztlich weder raffinierter Interpretationen, noch stellte sich damit ein Jargon ein, mit dem man in Feuilletons je hätte reüssieren können. Seine Texte und seine politischen Interventionen stellten scharfe, rücksichtslose, manchmal vielleicht sogar ungehobelte Eingriffe in das gesamtgesellschaftliche Gefüge dar. Seine Kritik der technologischen Zivilisation traf tatsächlich den Nerv einer Entwicklung, die gegenwärtig einem neuen Höhepunkt zusteuert.

Und dazu kommt noch etwas, was nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch und gerade den heutigen Leser verstören muss: Anders verachtete den Optimismus, in welcher Form auch immer. Seine Philosophie kannte keinen Ort und keine Instanz, die eine bessere Welt versprach: das Proletariat nicht und nicht der Markt, die Frauenbewegung nicht und nicht die Friedensbewegung, die Natur nicht und nicht die Dritte Welt; auch kein Utopia; und ein technisches Paradies schon gar nicht. Die prinzipielle Heimatlosigkeit, die Anders' Leben und seine Philosophie, namentlich seine Anthropologie kennzeichnet, hatte und hat etwas Anstößiges an sich. Was Anders zu einem Ketzer der Moderne machte, war seine Missachtung deren innersten Prinzips, dem sich bislang noch ihre größten Kritiker verpflichtet fühlten: des Glaubens an den Fortschritt, der Hoffnung auf die Zukunft. Und dass er seine Hoffnungslosigkeit dennoch mit rigiden, auch den persönlichen Bereich umfassenden moralischen Ansprüchen verband, dass er im Umgang mit Menschen ebenso kompromisslos war wie im Umgang mit Theorien, machte seine Philosophie, aber auch seine Person für viele nur schwer erträglich.

Günther Anders' Interesse galt von seinen ersten selbständigen philosophischen Versuchen bis zu seinen letzten Reflexionen kurz vor seinem Tode einem einzigen Thema: dem Menschen. Er war in einem eminenten Sinn Anthropologe, aus Leidenschaft und aus Not, ohne sich - von seinen Anfängen vielleicht abgesehen - je in der klassischen Disziplin der "philosophischen Anthropologie" geübt zu haben. Die große Frage, in der nach Immanuel Kant alles Philosophieren zusammenläuft, die Frage "Was ist der Mensch?", bekam bei Anders eine völlig unspekulative, weil von der historischen Entwicklung aufgedrängte Bedeutung: Aus dem Fragen nach dem Wesen des Menschen wird die Frage, ob das, was wir lange "Mensch" nannten, in Zukunft noch sein wird. Allerdings, und dies macht die Besonderheit von Anders' Anthropologie aus, hat die ungesicherte Zukunft des Menschen unmittelbar mit jenem "Wesen" zu tun, das die klassische Anthropologie in vielen Anläufen und aus zahlreichen - biologischen, psychologischen, historischen und sozialen - Perspektiven vergeblich versucht hatte zu klären.

Günther Anders, 1902 in Breslau als Sohn des berühmten Psychologenehepaares Clara und William Stern geboren, hat sich in jungen Jahren eine negative Anthropologie skizziert, die noch immer ihrer Entdeckung und Würdigung harrt. Vor allem ein 1929/30 mehrmals gehaltener und bis heute unpublizierter Vortrag über die Weltfremdheit des Menschen gibt davon Zeugnis. Im Pariser Exil hatte Anders diesen Vortrag 1936 auf französisch unter dem Titel "Pathologie de la Liberté" publiziert - noch unter dem Vaternamen Günther Stern. Die Bedeutsamkeit dieser Texte, ihre philosophische Dignität und sublime Wirkungsgeschichte wäre überhaupt erst einmal zu entdecken und ins allgemeine Bewusstsein zu heben.

Anders' damaliger Ausgangspunkt war die spezifische Situation des Menschen in einer Welt, an die er nicht wie das Tier angepasst ist, in der er nicht heimisch ist. Der Welt gegenüber ist der Mensch ein Fremder. Diese Fremdheit aber ist die Voraussetzung seiner Freiheit. Zu dieser - Sartre hatte es bei Anders gelesen - ist der Mensch geradezu verurteilt. Mensch sein heißt die Einheit mit der Welt verloren haben. Konstitutiv für Menschsein ist also eine ontologische Differenz zwischen Mensch und Welt, eine prinzipielle Form der Unzugehörigkeit, der Fremdheit, die sich, philosophisch gesprochen, im möglichen Zweifel an der Existenz der Welt und am Sinn von Sein ausspricht. Damit ist der Mensch in eine grundlegende Distanz zur Welt gesetzt. Diese Distanz, diese Weltfremdheit ist die Art und Weise, wie der Mensch die Welt und sein Sein in dieser Welt "erfährt". Oder: Nur in dieser Erfahrung der Weltfremdheit erfährt der Mensch auch sein Dasein.

Erfahrung meint aber nicht nur eine rezeptive Form der Weltaneignung, sondern - und dies ist wohl der für Anders letztlich entscheidende Aspekt der Weltfremdheit - eine aktive Form der Weltgestaltung: Praxis. Das unangepasste Wesen muss sich seine Welt schaffen, weil es keine gibt, die für es vorhanden wäre. Die Welt, in der der Mensch lebt, muss immer erst hergestellt werden. Das bedeutet aber auch, dass es keine vom Menschen geschaffene Welt gibt, die ihm von vornherein angemessener wäre als eine andere. Es sind immer Welten, die vom Menschen entworfen werden können. Damit allerdings konstituiert sich auch die Historizität des Menschen, seine Geschichtlichkeit. Sie ist nicht zuletzt ein Resultat davon, dass das weltfremde Wesen Mensch nicht gezwungen ist, eine einmal geschaffene Lebensform auch beizubehalten: "Der Mensch ist nicht nur auf diese Welt nicht festgelegt, sondern auf keine; nur darauf, jeweils in einer seiner Welt zu leben. Dies Nichtfestgelegtsein auf ist die conditio sine qua non seines Freiseins für Geschichte." Gerade weil der Mensch keine vorgegebene Identität hat, muss er sich seine Identität immer erst schaffen, was ihm aber die Möglichkeit gibt, diese immer auch neu zu schaffen. Die Geschichte ist deshalb kein Prozess, der auf ein Ziel, einen Endzustand hinliefe, sondern umgekehrt: Gerade weil es kein Ziel für den Menschen gibt, ist er zu Geschichte, zum Ausprobieren und zum Entwerfen unterschiedlicher Lebens- und Gesellschaftsformen verurteilt.

Den anthropologischen Befund des Vortrags über die Weltfremdheit des Menschen hat Günther Anders in dem Essay "Pathologie de la Liberté" in einem außerordentlich prägnanten Satz zusammengefasst: "Künstlichkeit ist die Natur des Menschen, und sein Wesen ist Unbeständigkeit." Paradox formuliert: Des Menschen Identität besteht darin, keine Identität zu haben. Das bedeutet aber auch, dass der Mensch immer nur zufällig der ist, der er ist. Es gibt für sein Dasein keine Notwendigkeit. Anders sprach von dem "Schock der Kontingenz" als der Zentralerfahrung des modernen Menschen: Die Kontingenz ist das "Danaergeschenk der Freiheit". Wohl ist der Mensch frei; aber der Preis der Freiheit besteht darin, dass der Mensch sein Dasein nicht sich selbst, sondern dem Zufall verdankt. Wohl kann er aus diesem Dasein und der Tatsache, dass er zufällig als dieser und nicht als eine anderer an diesem und an keinem anderen Ort der Welt geboren wurde, und aus sich etwas machen - aber der Makel, nicht über die Bedingungen der eigenen Existenz zu verfügen, bleibt.

Auf seiner Freiheit beharren wollen bedeutet dann, seinen Ursprung und seine Herkunft ignorieren zu müssen, sich ihrer zu schämen oder sich überhaupt vor sich selbst zu ekeln; die zufälligen Bedingungen seiner Herkunft aber als notwendige anzuerkennen, würde bedeuten, tendenziell seine Freiheit aufzugeben. Den Menschentypus, der versucht, sich dem Problem der Kontingenz zu stellen, nannte Anders den nihilistischen Menschen; denjenigen, der es unternimmt, seiner Herkunft einen verbindlichen Sinn zu geben, den historischen Menschen. Diese Differenzierung ist alles andere als antiquiert.

Der Nihilist ist also identitätslos, zufällig, frei zu allem und jedem, ohne Notwendigkeit. Der Nihilist, bei dem der Schock über die Erfahrung seiner Zufälligkeit in eine Kontingenzwut umschlägt, leugnet nun nicht nur das Sein, das er selbst ist, "sondern das Sein des Seienden selbst, das jetzt unter den Fluch kontingenter Beliebigkeit fällt, als wenn es irgendein belangloses Seiendes wäre". Die Kontingenz seines Daseins in der Welt erscheint dem Nihilisten in zweierlei Gestalt, als Kontingenz der Zeit (dass er jetzt ist und nicht später oder früher) und als Kontingenz des Raumes (dass er hier ist und nicht woanders). Die "Pathologie der Freiheit", an der der Nihilist leidet, lässt ihn nun in einer krankhaften Übersteigerung, die nichtsdestotrotz die Wahrheit über den Menschen freilegt, mit diesen Dimensionen verfahren. Weil er sich mit der Zufälligkeit seines Daseins nicht abfinden kann oder will, möchte er diese Zufälligkeit aufheben, indem er dem Sein selbst seinen Stempel aufdrückt. Den nihilistischen Menschen dürstet deshalb nach Macht und Ruhm, nach Omnipräsenz im Raum und in der Zeit: "Der Raumkranke möchte die Kontingenz des Ortes neutralisieren, an dem er sich gerade befindet. Er will überall gleichzeitig sein, sich des Ganzen mit einem Schlag bemächtigen. In der Gier nach der Macht sucht der Mensch den Vorsprung einzuholen, den die Welt vor ihm hat; da er nicht je schon alles ist, muss er alles haben."

Dass der moderne Mensch die Omnipotenz, wenn auch nur ex negativo, erlangen wird, dadurch, dass er sich waffentechnisch in die Lage versetzt, die Welt schlechthin zu vernichten, muss nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt für Anders in höchstem Maße schockierend gewirkt haben.

Man könnte in der Andersschen Skizzierung des nihilistische Menschen aber auch unschwer den modernen Charakter des rastlosen Expansionisten erkennen. Es wäre durchaus reizvoll, das vieldiskutierte Phänomen der Globalisierung einmal auch unter diesem Aspekt zu betrachten: Was treibt denn den Menschen dazu, dass, wenn nicht er selbst, dann zumindest die von ihm hergestellten Produkte, die Markennamen, Firmen, Programme, Softwarestandards rund um den Globus präsent sind, wenn nicht auch der Versuch, auf diese Art dem Kontingenzschock zu entgehen; was verspricht denn die Globalisierung vor allem im Bereich der Telekommunikation, wenn nicht genau jene zumindest elektronische Allgegenwart, die es dem einzelnen erlaubt, sich als Teil eines weltumspannenden, die Zeit sistierenden Netzes zu begreifen, das es ihm erleichtert, die Zufälligkeit und Bedeutungslosigkeit seines Daseins zu vergessen. Von überall auf alles Zugriff zu haben: diese Heilsformel aus der Propagandaküche des Internet erinnert wohl nicht von ungefähr und dennoch überraschend an die Typologie des Nihilisten, wie sie Anders in seiner Auslegung der Weltfremdheit des Menschen Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gegeben hat.

Gegenüber den Macht- und Ruhmphantasmen des nihilistischen Menschen setzt der historische Mensch nach Anders auf den Versuch, sich mit seiner Herkunft, seinen Ursprung in Einklang zu bringen. Der historische Mensch lebt aus der Erinnerung, er findet seine Identität - nicht indem er der Welt seinen Stempel aufdrückt, sondern indem er versucht, sich seiner Herkunft zu versichern. Die Kontingenz seines Dasein hebt er auf durch die Notwendigkeit seiner Geschichte. Anstelle der Scham tritt die Ehrfurcht vor der Vergangenheit, die zentrale Aktivität wird die Erinnerung. Der historische Mensch weiß, wer er ist, bevor er seine Kontingenz schockhaft erfahren kann. Er ist durch die Vergangenheit immer schon in einen identitätstiftenden Kontext eingebunden, seine Vergangenheit und die seiner Vorfahren sind Momente und Bedingungen dieser Identität. Nicht zuletzt im Namen, der den einzelnen mit seinen Vorfahren verbindet und der ihm für ein ganzes Leben lang eine Identität gibt, drückt sich dies aus.

Allerdings ist damit auch die Freiheit des historischen Menschen tendenziell außer Kraft gesetzt. Er kann sich immer nur nachträglich zu dem bekennen, was er, in der Vorgeschichte seiner Vorfahren, seines Volkes, seiner Nation, seiner Ethnie, seiner Religion oder Kultur, immer schon war. Und auch dieser Analyse des historischen Menschen kann Aktualität nicht abgesprochen werden. Die Renaissance, die verschiedene Formen der Re-Ethnisierung in letzter Zeit erlebt haben, die - oft unter dem Stichwort "kulturelle Identität" - beschworenen Berufungen auf tief in der Vergangenheit verwurzelte ethnische, nationale, religiöse Zugehörigkeiten sowie das neue Interesse an Herkunfts- und Familiengeschichten, ja auch die vielbeschworenen Gedächtnis- und Erinnerungskulturen gehorchen in verblüffender Weise den Identifikationsbestrebungen des von Anders sogenannten historischen Menschen. Dieser kann als Antithese, wie es Anders formulierte, aber auch als Komplementärerscheinung zum Nihilisten aufgefasst werden. Für Anders selbst war der Nihilist "philosophisch bedeutsamer", weil er das Wesen der Unbestimmtheit des Menschen, seine Pathologie der Freiheit, radikaler zum Ausdruck bringt als der historische Mensch, der sich mit Ursprungsmythen und Herkunftsideologien nur scheinbar über das faktum brutum der Kontingenz hinwegtragen lässt.

Die frühen anthropologischen Schriften von Günther Anders verweisen auf ein eigentümliches Paradoxon: Die These von der künstlichen Natur des Menschen hätte Anders eigentlich dazu prädestinieren können, zu einem die Technik affirmierenden Philosophen zu werden - denn was ist Technik anderes als ein weiterer Schritt des weltfremden und weltlosen Menschen, sich seine eigene Welt zu schaffen und zu gestalten. Und dennoch gilt Anders zu Recht als einer der vehementesten und scharfsinnigsten Kritiker der Technik, ein Kritiker allerdings, der auch aus der schreckhaften Faszination, die der technische Fortschritt auf ihn ausübte, kein Hehl gemacht hat.

Und dennoch: Vieles in der späteren Philosophie von Günther Anders, vor allem seine melancholische These von der "Antiquiertheit des Menschen", klingt, als gelte es plötzlich, ein invariantes "Wesen" des Menschen gegen die Anschläge der Apparate und den Deformationszwang der modernen Technologien zu verteidigen. Wie ist das angesichts seiner frühen negativen Anthropologie zu verstehen?

Unter dem Eindruck von Auschwitz, Hiroshima und den technologischen Revolutionen hatte Anders seine ursprüngliche Fragestellung geradezu umgedreht - nicht mehr der Mensch, der sich keiner Welt von vornherein zugehörig fühlen kann, weil er sich immer erst eine ihm angemessene schaffen muss, wird nach 1945 zentraler Gegenstand seiner Philosophie, nicht der Mensch ohne Welt also, sondern die vom Menschen selbst geschaffene Welt, die zurückwirkt auf ihre Konstrukteure, diese verändert und tendenziell überflüssig macht, rückt in den Mittelpunkt: die Welt ohne Mensch also, die Erde, die durch den Menschen menschenleer wird. Nicht um ein metaphysisches "Wesen" des Menschen sorgte sich Günther Anders, sondern um seine Existenz.

Reduziert man Anders auf einen Kulturkritiker, der darüber lamentierte, dass durch die Industrialisierung und Technisierung viel von dem verlorengehe, was bis ins 19. Jahrhundert die Idee des Humanen ausmachte, missversteht man ihn. Die Provokation seiner Reflexionen über die Antiquiertheit des Menschen bestand und besteht darin, dass die technische Zivilisation den Menschen als Gattung degradiert.

In dem Buch "Der Blick vom Mond", noch immer lesenswerten Reflexionen über die Weltraumfahrt, interpretierte Günther Anders die Mondlandung als endgültigen Abschied von jedem Geozentrismus - gerade die technische Leistung, die Großartigkeit des Mondfluges bestätigt die Erfahrung der Nichtigkeit dieser Erde. Die Rückkehr zu dieser Welt, so Anders, das Wiedereintreten in die Erdatmosphäre, ist nicht nur technisch das eigentliche große Problem der Raumfahrt: "Denn was wir hier beobachten: dass die Rückkehr ins Menschliche immer schwieriger wird und immer komplizierter, je weiter wir die Grenzen des Menschlichen überschreiten, diese Beobachtung scheint eine Regel zu sein, die in der wissenschaftlichen Forschung und Technik überhaupt gilt."

Damit ist ein Hauptgedanke der Anthropologie von Anders formuliert: Es sind gerade die Triumphe des Menschen, die ihn von sich selbst entfernen, das menschliche Maß überschreiten und den Menschen tendenziell verschwinden lassen. Dass der Mensch dem versucht zu entgehen, indem er sich seiner Technik anpasst, sich selbst nach dem Vorbild seiner Maschinen modelliert, mit diesen verschmelzen möchte, hatte Anders schon in den fünfziger Jahren prognostiziert - wenn auch mit Grauen.

Das Parodoxon, warum Anders die Unfestgelegtheit des Menschen behauptete und dennoch beklagte, dass der Mensch als Gattung durch seine eigene Technik bedroht sei, lässt sich letztlich kaum auflösen. Die Fähigkeit, sich eine Welt zu schaffen, in der der Mensch erst recht keinen Platz mehr haben, er also auch fremd nicht nur in der vorgängigen, sondern auch in der von ihm entworfenen Welt sein könnte, lässt sich vielleicht auch als eine Möglichkeit deuten, die in der Pathologie der Freiheit schon angelegt ist. Die Handlungsoptionen, die aus der Freiheit erwachsen, müssen, weil sie aus Freiheit erwachsen, deshalb noch lange nicht in einem moralischen oder anthropologischen Sinn "gut" sein, ja sie müssen deshalb nicht einmal in einem spezifischen Sinn gewollt sein. Ob die Menschen das Automobil, die Atombombe, die Raumfahrt, den Computer und die Gentechnik im Sinne einer kollektiven Willensbildung stets affirmiert haben, darf wohl bezweifelt werden.

Umgekehrt hat es aber auch keinen Sinn, dunkle Mächte zu imaginieren, die den Menschen immer Dinge aufnötigen, die diese gar nicht wollen oder benötigen. "Pathologie der Freiheit" und "Weltfremdheit" sind vielleicht gerade unter den Bedingungen der Gegenwart keine schlechten Formulierungen, um das zu benennen, was sich durch avancierte Technik schlechthin zuträgt. Die Frage, die sich Anders gestellt hat, war also, herauszufinden, ob die Veränderbarkeit des Menschen mit der von ihm veränderten technischen Welt überhaupt Schritt halten kann. Anders fürchtete - und zumindest logisch scheint das Problem unlösbar -, dass das Wesen, dessen Wesen die Wesenlosigkeit ist und das deshalb gezwungen ist, sich immer erst zu entwerfen, diesen Entwürfen nicht mehr genügen könnte: übertroffen werden könnte von sich selbst, weil dieses Selbst seinen Kern darin hat, sich immer wieder überschreiten und damit auch - mit allen Konsequenzen - negieren zu müssen.